Wer weiß das schon?

Gerhard Kögel ist katholischer Klinikpfarrer und schon seit vielen Jahren am Universitätsklinikum tätig. Hier arbeitet er regelmäßig mit Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen zusammen, erlebt deren Geschichten und Schicksale. Dabei lernt er auch immer wieder Neues über sich selbst und darüber, was im Leben wirklich wichtig ist.

Wann werden wir wieder zur Normalität zurückkehren? Wie lange wird es dauern, bis die Impfkampagne ihre Wirkung zeigt? Wird sich unsere Wirtschaft vom Lockdown einigermaßen erholen? Werde ich selber gesund bleiben? Werden meine An- gehörigen und Freunde gesund bleiben? In diesen Corona Tagen gibt es mehr Fragen als Antworten. Auch die Wissenschaftler, deren Wort in einer solchen Krise viel gilt, können uns nur begrenzt Auskunft geben, von Google und Co. ganz zu schweigen.

Bei vielen Fragen müssen wir schlichtweg eingestehen: wir wissen es nicht, wir können nur Vermutungen anstellen. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die mich schon länger begleitet:

Im alten Indien verurteilte ein König einen Mann zum Tode. Der Mann bat den König, das Urteil aufzuheben, und fügte hinzu: »Wenn der König gnädig ist und mein Leben schont, werde ich seinem Pferd innerhalb eines Jahres das Fliegen beibringen.« »Es sei«, sagte der König, »aber wenn das Pferd in dieser Zeit nicht fliegen lernt, wirst du dein Leben verlieren.« Als seine Familie voll Sorge den Mann später fragte, wie er sein Versprechen einlösen wolle, sagte er: »Im Lauf eines Jahres kann der König sterben. Oder das Pferd kann sterben oder es kann fliegen lernen. Wer weiß das schon?«

SELBST WENN WIR DAS GEFÜHL HABEN, WIR KÖNNTEN IN EINER BESTIMMTEN SITUATION NUR WENIG AUSRICHTEN, LOHNT ES SICH, SICH DARUM ZU BEMÜHEN.

Jeder Mensch kann in seinem Leben in Situationen geraten, die katastrophal sind oder aussichtslos erscheinen. Da kann sich schnell lähmende Verzweiflung einstellen. Unsere Geschichte legt einen anderen Blickwinkel nahe: viele Situationen sind nicht so ausweglos, wie es auf den ersten Blick scheint. Wir haben oft mehr Handlungsspielraum, als wir meinen.

Der Mann in der Geschichte findet sich ja gerade nicht mit seinem Todesurteil ab, sondern versucht, es abzuwenden. Und die ersten beiden Möglichkeiten, dass der König stirbt oder dass das Pferd stirbt, sind durchaus realistisch.

Ein Alles-oder-Nichts-Standpunkt ist in der Regel wenig hilfreich. Selbst wenn wir das Gefühl haben, wir könnten in einer bestimmten Situation nur wenig ausrichten, lohnt es sich, sich um einen Ausweg zu bemühen. Manchmal geschieht dann etwas, das wir so nie für möglich gehalten hätten. Gläubige Menschen nennen so eine Haltung übrigens Gottvertrauen.

Hinweis

Dieser Artikel erschien zu erst in der Ausgabe 1/2021 des Gesundheitsmagazins "GESUNDHEIT ganz groß". Die gesamte Ausgabe finden Sie als PDF-Datei zum nachlesen hier: Ausgabe 1/2021.