Im Lachen ist sie groß!

Die Familie der kleinwüchsigen Shanice meistert den Alltag mit Humor.

Ob drinnen oder draußen, du kommst bei den Aufnahmen auf jeden Fall groß raus, verspricht Dr. Désirée Dunstheimer der 17-jährigen Shanice aus Augsburg an diesem regnerischen Juli-Nachmittag beim Fototermin für das Uniklinikum-Magazin. »Ja, das wär’ doch mal was,« lächelt Mutter Mandy ihre Älteste liebevoll an. »Aber für uns ist unsere Tochter ohnehin die Größte!« Shanice Klittmann blinzelt unter ihrem grauen Käppi spitzbübisch zurück, mit schräggelegtem Kopf, von unten nach oben. Die Schülerin der Fritz-Felsenstein- Schule muss immer zu anderen Menschen aufschauen – sie ist extrem kleinwüchsig. 95 Zentimeter misst die Jugendliche, hat damit die durchschnittliche Größe eines zweijährigen Mädchens. Ihre Füße stecken in winzigen, trendigen Marken-Sneakers. »Zum Glück hat sie Schuhgröße 21 erreicht, da gibt es tatsächlich schon Modelle, auf die sie steht,« erklärt Mandy Klittmann (43) und Shanice nickt bestätigend. Mutter und Tochter sind ein eingespieltes Team – Blicke gehen wortlos hin und her, beim Laufen finden die große und die kleine Hand wie selbstverständlich zueinander.

Alle drei Monate kommt Shanice an das neue Augsburger Zentrum für Seltene Erkrankungen (AZeSE) zur Kontrolle. In der Kinderklinik am Universitätsklinikum Augsburg sind die Klittmanns schon alte Hasen – Shanice ist dort seit Jahren in Behandlung bei Dr. Désirée Dunstheimer, leitende Oberärztin der Kinderklinik Augsburg | Mutter-Kind-Zentrum Schwaben und Leiterin des AZeSE.

Eine Krankheit gilt als selten, wenn sie bei weniger als fünf von 10 000 Menschen auftritt. Da es schätzungsweise bis zu 8.000 derartige Erkrankungen gibt, ist selten eher häufig: Bundesweit sind etwa vier Millionen Menschen von einer »Seltenen« betroffen. Etwa 80 Prozent dieser Krankheiten sind genetisch bedingt, erste Symptome treten häufig bereits im Kindes- und Jugendalter auf. Das Augsburger Zentrum für Seltene Erkrankungen (AZeSE) wurde 2020 unter der Leitung von Dr. Désirée Dunstheimer als Einrichtung innerhalb des Universitätsklinikums Augsburg (UKA) gegründet. Das AZeSE-Team, bestehend aus ärztlichen und nicht-ärztlichen Lotsen, ist zentrale Anlaufstelle, um bei einer entsprechenden gesicherten Diagnose innerhalb des UKA den richtigen Ansprechpartner zu finden oder bei der Suche nach einem anderen passenden Zentrum in Deutschland zu unterstützen. Zudem werden interdisziplinär Aktivitäten in Krankenversorgung, Forschung und Lehre koordiniert. Hierzu haben sich mehrere Kliniken des UKA, die auf die Diagnostik und Behandlung bestimmter seltener Erkrankungen oder Krankheitsgruppen spezialisiert sind, zusammengeschlossen. Derzeit gibt es innerhalb des AZeSE 13 krankheits- und krankheitsgruppenspezifische Fachzentren, die in gemeinsamen Fallkonferenzen diagnostische Schritte erarbeiten. Zur bestmöglichen Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen ist das AZeSE in überregionale und bundesweite Netzwerke und Patientenorganisationen eingebunden, weitere Zusammenschlüsse auch auf europäischer Ebene sind geplant. Die neue Online-Plattform des Bayerischen Arbeitskreises Seltene Erkrankungen (BASE-Netz), in dem sich die Zentren für Seltene Erkrankungen der bayerischen Universitätskliniken zusammengeschlossen haben, wurde vom Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst mit finanzieller Förderung in Höhe von bisher rund 1,5 Millionen Euro unterstützt.

Die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin und pädiatrische Endokrinologin war es, die nach einem Kongress vor rund 12 Jahren der Erkrankung des damals fünfjährigen Kindes auf die Spur gekommen war. »In einem Vortrag war dort vom sogenannten Homo floresiensis die Rede, einer kleinwüchsigen Bevölkerung, die vor 18 000 Jahren auf einer indonesischen Insel gelebt haben soll,« erzählt Dr. Dunstheimer. »An ihren gerade entdeckten Überresten waren typische Knochen- Fehlbildungen, Gesichtsasymmetrien und Zahnanomalien entdeckt worden, die nicht für eine eigene Menschengattung, sondern für einen Gendefekt sprachen.« Die Endokrinologin recherchierte, zog Parallelen und den Schluss, dass Shanice nicht einfach »nur« unter einer Mangelentwicklung, sondern an einer höchst seltenen, lebensverkürzenden Erkrankung leidet. Dieser sogenannte Mikrozephale Osteodysplastische Primordiale Kleinwuchs, abgekürzt MOPD, zeigt sich durch verzögertes Wachstum vor und nach der Geburt, Skelettauffälligkeiten, Gesichtsasymmetrien und Hirnanomalien. Ursache hierfür sind Veränderungen im Pericentrin- Gen, das Zellwachstum und Gewebeentwicklung steuert. Die Zellteilung und das Wachstum des Ungeborenen sind schon im Mutterleib gestört. Die Betroffenen haben zudem einen kleinen Kopf und oft Probleme mit den Blutgefäßen im Gehirn. Häufig ist die geistige Entwicklung leicht eingeschränkt. Diese spezielle Form von Kleinwuchs ist äußert selten; weltweit gibt es weniger als 100 Kinder, in Deutschland sind es laut der Elterninitiative »Walking with Giants Germany« derzeit vier.

FÜR UNS IST UNSERE TOCHTER OHNEHIN DIE GRÖSSTE!
Mandy Klittmann, Mutter

Bis zur schwerwiegenden Diagnose MOPDhatten Shanice und ihre Eltern bereits eine medizinische Odyssee hinter sich. Die ersten Schwangerschaftsmonate ihres Wunschkindes verliefen vermeintlich unproblematisch, erinnert sich Mandy Klittmann. Alles sei in Ordnung, hieß es stets von Seiten der Gynäkologin, nur die damals 26-jährige werdende Mutter hatte manchmal ein »komisches Gefühl«, weil ihr Bauch sich kaum veränderte. Kurz vor Weihnachten ergab eine Untersuchung, dass das Baby im Mutterleib vermutlich seit dem dritten Monat nicht gewachsen und unterversorgt war. Und dann ging alles ganz schnell. Am Heiligen Abend 2003 kam das Frühchen in der 29. Woche per Notkaiserschnitt in Augsburg zur Welt – 680 Gramm leicht und 31 Zentimeter groß. »Eine Kämpfernatur,« sagt Mandy Klittmann. Viereinhalb Klinik- Monate später – Shanice wog nun knapp zwei Kilo und war neun Zentimeter gewachsen – begann das ersehnte Familienleben zu dritt. Aber noch immer »wollte« das Kind nicht gedeihen. Bis Mandy und André Klittmann in der Kinderklinik Augsburg | Mutter-Kind-Zentrum Schwaben vorstellig wurden, hatte ihre Tochter schon viele Untersuchungen an verschiedenen Kliniken in Deutschland hinter sich. Im Verlauf waren ihr Wachstumshormone verabreicht worden – eine Behandlung, die bei genetisch bedingter Kleinwüchsigkeit nicht hilft. Nach der Diagnosestellung war in einer lebensrettenden Gehirn-OP an der Berliner Charité die schlechte Hirndurchblutung aufgrund verengter Hirngefäße verbessert worden. Eine erhöhte Schlaganfallgefahr und Aneurysmen gehören zum Alltag mit MOPD. Erst im vergangenen Februar wurde Shanice nach einem Krampfanfall aufgrund einer Aneurysmablutung ein Shunt zum Abfluss von Hirnwasser eingesetzt. Genau im Bilde zu sein darüber, was ihr Kind hat und zum Monitoring braucht, ist für die Familie Klittmann, zu der auch die jüngere 13-jährige Tochter Amelie zählt – »meine kleine Schwester«, wie Shanice gern betont – enorm wichtig.

Der Austausch mit den Ärzten im Universitätsklinikum Augsburg und der Elterninitiative gibt Kraft und Ansporn für möglichst viel »Normalität « und Humor im Alltag. »Shanice soll ihr Leben leben, wie sie möchte.« Gemeinsame Aktivitäten wie Urlaub, Schwimmen oder Trampolinspringen im Garten werden nicht »irgendwann«, sondern jetzt unternommen. Auch und gerade, »weil wir nicht wissen, wie lange sie bei uns bleiben darf«, so Mandy Klittmann, die mit viel Intuition die Bedürfnisse ihrer Tochter erspürt. Und beide Augen zudrückt, wenn Shanice lange »vor der Glotze sitzt«. Zurzeit schaut sie am liebsten alles von und mit Otto Waalkes. Denn »Im Lachen war sie immer schon ganz groß!«

Sie haben Fragen?

Wenn Sie mehr über das Zentrum erfahren möchten, klicken Sie auf nachfolgenden Link.

Augsburger Zentrum für Seltene Erkrankungen (AZeSE)

Hinweis

Dieser Artikel erschien zu erst in der Ausgabe 3/2021 des Gesundheitsmagazins "GESUNDHEIT ganz groß". Die gesamte Ausgabe finden Sie als PDF-Datei zum nachlesen hier: Ausgabe 3/2021.