Gold im Mund

Erstmals wurde im Augsburger Universitätsklinikum ein künstliches Kiefergelenk implantiert

Wenn Muhammed J. seine Geschichte erzählt, sprechen vor allem seine Augen. Während der Mund hinter der Corona-Maske verborgen bleibt, offenbaren sie Schmerz, Verzweiflung und Hoffnung und strahlen gleich darauf bei der Schilderung des Glücks. Denn dass der Mann aus dem westafrikanischen Gambia, der mit zertrümmertem Kiefer nach Bayern kam, heute sein Schicksal wieder mit fester Stimme in Worte fassen kann, verdankt er den Fachärzten der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie am Universitätsklinikum Augsburg: Er war der erste Patient, dem vor gut einem Jahr in der Schwabenmetropole eine Totalendoprothese (TEP) implantiert wurde, ein sogenannter alloplastischer Kiefergelenkersatz. Eine Operation, die Muhammed J. die Lebensqualität zurückbrachte.

Fast jedes Gelenk lässt sich heutzutage ersetzen, »neue« Hüften, Knie oder Schultern sind nahezu Standard. Wesentlich komplexer gestaltet sich der Austausch des Kiefergelenks, dem einzigen Dreh-Gleitgelenk im menschlichen Körper. Die Operation erfordert viel Fingerspitzengefühl und ein besonders hohes Maß an Präzision bereits in der Planung. »Man muss sehr fein und äußerst konzentriert vorgehen,« beschreibt Daniel Hiller, Assistenzarzt im Team der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie um Direktor Dr. Dr. Tilo Schlittenbauer, den dreistündigen Eingriff. »Denn das Kiefergelenk liegt ganz nah am empfindlichen Gesichtsnerv, der nicht verletzt werden darf.« Bei Muhammed J. war er durch einen schweren Unfall bereits in Mitleidenschaft gezogen.

Unfall mit Folgen

Risse, Quetschungen, Brüche, Bisswunden: Assistenzarzt Hiller kennt selbstverständlich die ganze Palette von Gesichtsverletzungen aus der täglichen Praxis im Universitätsklinikum Süd in Haunstetten. »Aber solch massive Folgeerscheinungen wie bei Herrn J. sieht man hierzulande selten,« fasst der 35-Jährige seine erste Begegnung mit Muhammed J. Anfang 2020 zusammen. »Der rechte Kiefergelenksfortsatz war völlig deformiert und mit der Schädelbasis verwachsen. Dazu litt er an einer Lähmung der rechten Gesichtshälfte.« Dadurch fehlte dem Patienten aus Afrika, der von einer niedergelassenen kieferchirurgischen Praxis an die Uniklinik überwiesen wurde, nicht nur die Gesichtsmotorik. Er war auch nicht fähig, den Unterkiefer nur einen Millimeter zu bewegen, zu sprechen, zu gähnen oder gar Mundhygiene durchzuführen. Zudem konnte er ausschließlich flüssige oder breiige Nahrung zu sich nehmen – und das über Jahre.

Es ist ein warmer, trockener Tag im März 2013, als Muhammed J., Landarbeiter, damals 41 Jahre alt, in der gambischen Hauptstadt Banjul mit seinem Moped in den Feierabend fährt. Die ehemalige britische Kolonie gilt als eines der ärmsten Länder der Welt. Das Auto, das J. seitwärts erfasst, hat er nicht kommen sehen. Bei dem Unfall erleidet der Mann, so Daniel Hiller, »eine Trümmerfraktur des rechten Kiefergelenksfortsatzes und Schnittverletzungen mit begleitender Fazialisparese (Gesichtslähmung).« In der Notfallstation werden die offenen Wunden versorgt, aber da es im Krankenhaus von Banjul an entsprechender Erfahrung und medizinischer Ausstattung fehlt, »erfolgten keine sonstigen Therapien« des Kieferbruchs, wie die Ärzte in Augsburg später feststellen. Dabei wären sie dringend notwendig gewesen. So aber lässt sich bereits drei Monate nach dem Zusammenstoß J.'s Gebiss nur noch eingeschränkt öffnen, im Laufe der Jahre entwickelt sich eine folgenschwere Kieferklemme. Ein Erwachsener kann seinen Mund normalerweise zwischen 38 und 40 Millimeter weit aufsperren – bei Muhammed J. ist dies nicht möglich.

Dr. Hiller erklärt Muhammed J. den erfolgreichen Eingriff und bespricht mit ihm die weiteren Behandlungsschritte.

MAN MUSS SEHR FEIN UND ÄUSSERST KONZENTRIERT VORGEHEN, DENN DAS KIEFERGELENK LIEGT GANZ NAH AM EMPFINDLICHEN GESICHTSNERV, DER NICHT VERLETZT WERDEN DARF.
Daniel Hiller

Uniklinikum Augsburg als letzte Chance

»Ich hatte ständig starke Schmerzen, erinnert sich der heute 49-Jährige, »manchmal konnte ich tagelang nicht aufstehen.« Freunde sammeln für ihn, Dr. dent. Dr. med. Tilo Schlittenbauer Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie legen zusammen. Eine Behandlung im benachbarten Senegal bleibt erfolglos. Europa erscheint als letzte Hoffnung. Das Augsburger Uniklinikum markiert die Endstation der medizinischen Odyssee. Aufgrund der eindeutigen radiologischen und klinischen Diagnose einer sogenannten »Kiefergelenkankylose« (Verknöcherung des Kiefergelenks mit der Schädelbasis) schlägt Klinikdirektor Dr. Dr. Schlittenbauer schließlich die Rekonstruktion des rechten Kiefergelenks mittels einer Totalendoprothese vor, die so bislang am Universitätsklinikum Augsburg noch nicht vorgenommen wurde.

Dabei wird nach einer Resektion, der operativen Entfernung des verknöcherten Kiefergelenks, der verbleibende Knochen so bearbeitet, dass eine sogenannte Standardprothese eingesetzt werden kann. Dies ist handwerklich sehr anspruchsvoll. »Wir mussten den Knochen mit viel Schleifarbeit an die Prothese anpassen«, erläutert Dr. Dr. Schlittenbauer. Das Ergebnis aber überzeugt: Nach nur vier Tagen kann der Patient die Klinik verlassen, zwei Wochen nach der op lässt sich der Mund auf 35 Millimeter öffnen, weitere Funktionen kehrten peu à peu zurück.

Für Muhammed J., der inzwischen in Deutschland Asyl beantragt hat, begann mit dem künstlichen Gelenk ein zweites Leben. »Er kann den Unterkiefer gut bewegen, normal essen, und hat keine Schmerzen,« zieht Daniel Hiller eine positive Bilanz. J.'s Augen strahlen – für ihn bedeutet die neue Kieferbeweglichkeit ein ganz neues »feeling«, sozusagen Gold im Mund.

Der 1. April 2021 markiert einen wichtigen Meilenstein im Aufbau der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (MKG) am Universitätsklinikum Augsburg, Standort Haunstetten. Seit diesem Tag agiert das Team um Direktor Dr. med. Dr. med. dent. Tilo Schlittenbauer als selbstständige Abteilung und ist damit die jüngste eigenständige Klinik im Unikomplex. Durch die Nähe zu anderen Organsystemen arbeiten die MKG-Spezialisten häufig interdisziplinär mit Neurochirurgen, Augenärzten und Dermatologen zusammen. Zudem müssen Ärztinnen und Ärzte dieser Fachrichtung ein Doppelstudium (Human- plus Zahnmedizin) absolvieren und benötigen die doppelte Approbation zur Ausübung ihres Berufs. Daher sind die Schwerpunkte der Klinik breit gestreut. Sie umfassen neben der zahnärztlichen Chirurgie die Implantologie, kosmetisch-plastische Chirurgie sowie die Korrektur schwerer Bissfehlstellungen. Dazu kommen die Behandlung von Zahn- und Weichteilverletzungen, komplexen Frakturen nach Fahrradunfällen, Pferdetritten, Polytraumata, lebensbedrohlichen Abszessen und als die wichtigste Sparte die Tumorchirurgie. Für die jüngsten Patienten mit angeborener Lippen-Kiefer-Gaumen- Spalte (LKG) sind eigene Sprechstunden eingerichtet; sie werden von Geburt an ganzheitlich betreut.

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Ihr/e Ansprechpartner/in steht Ihnen über unten stehende Kontaktdaten für Fragen zur Verfügung.

Dr. med. Dr. med. dent. Ninette Tödtmann

Direktorin der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie

Fachärztin für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie
Zusatzbezeichnung: Plastische Operationen

Fachzahnärztin für Oralchirurgie

Wenn Sie noch mehr über die Klinik erfahren möchten, klicken Sie auf den nachfolgenden Link:

Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie

Hinweis

Dieser Artikel erschien zu erst in der Ausgabe 2/2021 des Gesundheitsmagazins "GESUNDHEIT ganz groß". Die gesamte Ausgabe finden Sie als PDF-Datei zum nachlesen hier: Ausgabe 2/2021.