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Bei einem Polytrauma wird nicht jede Verletzung sofort versorgt

Am UKA wurden letztes Jahr 311 schwerstverletzte Patienten behandelt. Im sogenannten Trauma-Register gibt es von 700 Kliniken nur ein Haus, das mehr Polytraumata versorgt hat. Prof. Dr. Edgar Mayr: „Hohe Zahl aufgrund des riesigen Einzugsgebietes“.

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Dies ist eine Pressemitteilung des Universitätsklinikums Augsburg.
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Von Ines Lehmann | Zahlen des Trauma-Registers belegen: Die häufigste Ursache für ein Polytrauma in der Region ist ein Sturz aus mehr als drei Metern Höhe. 22,8 Prozent aller Schwerstverletzten, die im Jahr 2021 an der Augsburger Uniklinik (UKA) deshalb behandelt wurden, verletzten sich auf diese Art und Weise. Dabei wird nicht erfasst, ob der Sturz absichtlich herbeigeführt wurde oder ohne jegliche Absicht geschah. Gefolgt wird diese Zahl von Autounfällen mit dem Pkw mit 17,7 Prozent. Auch Stürze aus einer geringeren Höhe als drei Meter können ein Polytrauma nach sich ziehen: 12,9 Prozent.

Jedes Jahr erfasst das Trauma-Register der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) für das Vorjahr die Fallzahlen für Patienten mit einem Polytrauma für einen Klinikverbund mit 700 Kliniken aus insgesamt neun Ländern, 627 Kliniken davon aus Deutschland. Die Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie, Plastische und Handchirurgie am UKA unter der Leitung von Klinikdirektor Prof. Dr. Edgar Mayr kommt mit der Behandlung von 287 schwerstverletzten Patienten auf den 2. Platz in diesem Ranking schwerer Schicksale. Zählt man die von einem anderen Krankenhaus zuverlegten Patienten hinzu, so sind es sogar 311 Fälle.  Dabei werden nur Patienten erfasst, bei denen das Notfallbild eines Polytraumas erfüllt ist, also eine während eines akuten Ereignisses entstandene Verletzung mehrerer Körperregionen oder Organsysteme, von denen mindestens eine lebensbedrohlich ist. 89,5 Prozent der Patienten haben überlebt, im DGU-Vergleich sind es 87,5 Prozent. Hier werden nur die Patienten gewertet, die von der Einlieferung bis zur Entlassung in ein und derselben Klinik behandelt wurden. Mitten im Corona-Jahr 2021 ist das eine beeindruckende Leistung der Klinik für Unfallchirurgie.

„Wir waren in den letzten Jahren immer unter den ersten zehn oder gar fünf Kliniken, die im DGU-Trauma-Register genannt wurden“, sagt Prof. Mayr. „Der 2. Platz nun in 2021 macht uns schon stolz und ist der Beleg für ein hervorragend eingespieltes Team in der Unfallchirurgie.“

Mayr, der die Klinik für Unfallchirurgie seit 18 Jahren als Direktor führt, erklärt sich die hohe Zahl von 311 schwerstverletzten Patienten und Patientinnen mit dem riesigen Einzugsgebiet von zwei Millionen Menschen. Von durchschnittlich 1.400 Hubschraubereinsätzen im Jahr kommen bis zu 45 Prozent der Patientinnen und Patienten in die Unfallchirurgie. Vor allem im Corona-Jahr 2021 hätten, so seine Beobachtung, die Zahl der Unfälle draußen, im Wald etwa, zugenommen. Wie geht man damit um, wenn ein Mensch mit zertrümmerten Extremitäten, schwersten Kopf-Verletzungen und einem Thoraxtrauma vor einem liegt, gar ein Kind? „Das sehen wir nicht“, sagt Mayr. „Das musst du ausblenden, sonst funktionierst du nicht, und dann bist du keine Hilfe.“ Sein Kollege Dr. Gerald Kelp, unter anderem Facharzt für Spezielle Unfallchirurgie, ergänzt: „Bei einem Polytrauma entstehen ganze Kaskaden an Prozessen im Körper. In dem Moment, wo wir im Schockraum stehen, ist nur eines wichtig: diese Kaskaden zu unterbrechen. Sonst kann der Patient sterben.“

Heute weiß man, erzählt Mayr, dass es bei der Erstversorgung Schwerstverletzter nicht darum geht, „sofort alles zu reparieren. Das kann zu viel sein für den Patienten und zu einem multiplen Organversagen führen. Deshalb versorgen wir heute nur die akut lebensbedrohlichen Verletzungen, damit der Patient auf der Intensivstation, häufig intubiert beatmet, erst einmal zur Ruhe kommen kann.“ Die Oberschenkelfraktur zum Beispiel werde dann nur fixiert und später gerichtet.

Das war früher anders. Noch vor 15, 20 Jahren hat man auch die Oberschenkelfraktur sofort versorgt und so beim Nageln des Knochens unabsichtlich veranlasst, dass Knochenmark ins Innere der Lunge gelangt ist. „Heute nageln wir den Knochen frühestens nach sechs Tagen, um eine Schädigung der ohnehin gestressten Lunge zu vermeiden“, erklärt Mayr. Das System DCS (Damage control surgery) diene dazu, den Patienten am Leben zu halten und später die Anatomie zu korrigieren.

Mayr und Kelp erinnern sich an einen Fall, der ihnen beiden besonders an die Nieren gegangen ist: Ein noch junger Landwirt war bei Erntearbeiten vom Radlader eingequetscht worden. Ein Bein wurde dabei mitsamt einer Beckenhälfte innerlich abgerissen – eine Verletzung, die nur zehn Prozent der Fälle überleben, „Dass der Patient überlebt hat und heute im Rollstuhl sitzen kann, grenzt an ein Wunder“, so Mayr. Der andere Fall einer Patientin, die von einem rechts abbiegenden LKW überrollt wurde, ging durch die Medien, da sie selbst die Öffentlichkeit gesucht hatte. Die Stadt Augsburg etwa hatte vorsorglich daraufhin alle ihre LKW mit sogenannten Abbiege-Assistenten nachgerüstet.

Um im Trauma-Register registriert zu werden, müssen bestimmte Qualitätsanforderungen erfüllt werden, was die vom Krankenhaus vorgehaltenen Strukturen und die festgelegten Prozesse betrifft, erfüllt werden. Auch die Ergebnisqualität wird ständig gemonitort. Hierzu dienen verschiedene Scores, welche die Schwere der Verletzungen feststellen. Mindestens eine der Verletzungen muss einen „AIS größer drei“ aufweisen. AIS (Abbreviated Injury Scale) ist ein Codierungssystem für die Klassifizierung der Schwere von Verletzungen. Es weist vordergründig auf die mit der Verletzung verbundene Lebensgefahr hin und versucht nicht, die Verletzungen an sich umfassend zu beschreiben. Bei einem Polytrauma muss zusätzlich zu einer Verletzungsschwere „AIS größer 3“ auch eine der folgenden Diagnosen verbunden sein: Blutniedrigdruck, Bewusstlosigkeit, ein gestörter Säure-Basen-Haushalt, Blutgerinnungsstörungen oder ein Alter unter 70 Jahre.

Nach Sturz aus einer Höhe mehr als drei Meter, PKW-Unfällen, Sturz aus einer Höhe weniger als drei Meter folgen zweistellig Motorradunfälle (12,2 Prozent). Der Suizid liegt mit 7,6 Prozent der am UKA behandelten Patienten deutlich über dem DGU-Durchschnitt mit 4,8 Prozent. Kopf und Thorax sind dabei die am massivsten betroffenen Körperregionen. Das Durchschnittsalter der Patientinnen und Patienten liegt am UKA mit 50,8 deutlich unter dem der DGU (54,2), was auch dem im Vergleich hohen Anteil von am UKA behandelten schwerstverletzten Kindern von 5,1 Prozent geschuldet ist. 68 Prozent der Patienten sind männlich. 20,2 Prozent der Fälle sind in 2021 in Ausübung des Berufes passiert, die über die Berufsgenossenschaft versichert sind. „Gut erholt“ haben sich nach ihrer massiven Verletzung 76,2 Prozent der Patientinnen und Patienten. „Mäßig behindert“ sind 17,6 und „schwer behindert“ 6,1 Prozent.

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