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Gudrun Loos Schmerzlotsin im Bayerischen Kinderschmerzzentrum

Wie Amelie als Gipfelstürmer wieder auf die Beine kam

Ein kleiner Fehltritt beim Schulsport hatte für die neunjährige Amelie gravierende Folgen – die wehe Zehe verschlimmerte sich dramatisch, ohne dass eine organische Ursache zu finden war. Erst durch die multimodale Schmerztherapie des Bayerischen Kinderschmerzzentrums in Augsburg erkannte sie, wo der Schmerz wirklich saß und wie sie ihn besiegen konnte.

Amelie liebt Leichtathletik – zweimal in der Woche geht die 5-Klässlerin zum Training der TSG Augsburg; Sprint und Weitsprung sind ihre Disziplinen, auf ihre kürzlich erreichte Weite von 4,10 Meter ist sie richtig stolz. Viel Zeit nimmt sich die Schülerin des Maria-Ward-Gymnasiums außerdem für ihre kleine Havaneserhündin Momo; unbeschwert tollt sie mit dem schwarz-weißen Fellbündel um die Wette. 

Dass das mittlerweile elf Jahre alte Mädchen mit dem braunen Pferdeschwanz seine Lebens- und Bewegungsfreude wiedererlangt hat, war nicht abzusehen, als es vor einem Jahr in der Schmerzambulanz am Bayerischen Kinderschmerzzentrum im Universitätsklinikum Augsburg vorgestellt wurde. Schmerzgeplagt, auf Krücken, stark bewegungseingeschränkt durch einen geschwollenen, äußerst schmerzenden Fuß. Kein Mediziner hatte bisher organische Ursachen für Amelies Befinden erkannt. 

»Sie bewegte sich nur noch auf dem anderen Bein hüpfend oder mit Gehhilfen fort« berichtet Kinderärztin und Schmerztherapeutin Rosemarie Ahnert, die ärztliche Leiterin des Zentrums, in dem chronisch kranke Kinder ambulant und stationär versorgt werden. »Zur Untersuchung durfte ich sie zunächst gar nicht anfassen, sie war extrem berührungsempfindlich.« 

Amelies Leidens-Geschichte, die sie im Beisein ihres Vaters erzählt, begann im April 2016 beim Schulsport. »Wir haben Hochsprung geübt,« erinnert sich Amelie, »und ich hab‘ die Latte zu hoch gelegt.« Beim anschließenden Sprung bleibt sie hängen und staucht sich beim Aufkommen am Boden den rechten großen Zeh. »Das hat zwar wehgetan, war aber erst gar nicht so schlimm.« Die Mutter reibt die verletze Zehe am Nachmittag mit Salbe ein und macht einen festen Verband. 

Als nach ein paar Tagen der Schmerz nicht nachlässt, gehen die Eltern mit ihrem Kind zum Arzt. Vielleicht ist doch etwas am Knochen, eine Kapsel, ein Band gerissen? Ultraschall und Röntgenaufnahme ergeben – nichts. Der Fußrücken ist stark geschwollen und dunkelrot verfärbt. Auftreten geht nicht mehr, Amelie wird nun zur Schule gebracht und geholt, verbringt die meiste Zeit zuhause im Sitzen. Die heftigen Schmerzen lassen sie die Lust am Lesen, Spielen und Freunde treffen verlieren. 

Es folgen Laboruntersuchungen und MRT – ohne Ergebnis. Amelies Fuß beginnt, sich leicht nach innen zu formen. Erst geht sie wochenlang an Krücken, später bringt der neue »Walker« etwas Erleichterung: Der stabile orthopädische Entlastungsschuh gibt ihr Halt und Sicherheit, endlich kann sie wieder auf beiden Beinen stehen. Der Schmerz aber bleibt. 

»Wenn ein Kind so leidet, beeinträchtigt das das komplette Familienleben,« sagt Amelies Vater, ein besonnener, freundlicher Mann, wie die Mutter promovierter Chemiker. Zum Mitleid gesellen sich Ängste, sogar Zweifel, gute und weniger gute Ratschläge aus Familien- und Bekanntenkreis kommen hinzu. »Nichts« kann doch nicht wehtun, mag sie – eine gute Schülerin – vielleicht nicht in die Schule, haben wir etwas übersehen.

Der Ursache auf der Spur

Wie nah die besorgten Eltern mit ihren Überlegungen der Ursache gekommen waren, erfahren sie schließlich am Kinderschmerzzentrum Augsburg. »Es war reines Glück, dass wir dort ankamen, wo Amelie professionell behandelt werden konnte,« sagt der Vater. Zuvor hatte bei einer Untersuchung im Klinikum ein Chirurg in den Symptomen eine Erkrankung erkannt, die er bereits bei Erwachsenen behandelt hatte: CRPS, das Komplexe regionale Schmerzsyndrom, das sehr selten bei Kindern vorkommt. »Seine Vermutung hat sich bei uns bestätigt,« sagt Rosemarie Ahnert, die umgehend Amelies stationäre Aufnahme empfahl. 

»Endlich sagte mir jemand, was ich habe: Reflexdystrophie,« spricht Amelie ihre Krankheit fehlerfrei aus. »Und dass ich jetzt Hilfe bekomme«. Für sie begannen im Juni 2016 sechs spannende Wochen als »Gipfelstürmer«. »Ein bisschen wie im Internat«, nicht wie im Krankenhaus sei sie sich in ihrem gemütlich eingerichteten Zweibettzimmer vorgekommen, dass sie mit einem gleichaltrigen Mädchen teilte. Der Tag ist streng strukturiert, gemeinsame Mahlzeiten, Unterricht an der hauseigenen Schule, dazwischen die individuellen Therapien und Gruppenaktivitäten wie Ausflüge in den Zoo und Spieleabende. »Wir haben einmal ein Gehirnmodell untersuchen dürfen,« erzählt Amelie, die dabei gelernt hat, wie Wehtun entsteht und wie die Schmerzwahrnehmung funktioniert. Überhaupt wurde ihr viel erklärt, be- und gehandelt wurde stets nur mit ihrem Einverständnis. »Pfleger und Erzieher unterstützen und ermutigen die Kinder, sich wieder etwas zuzutrauen, geben mit positivem Feedback viel Selbstvertrauen zurück,« ergänzt Rosemarie Ahnert. Ärztin steht seither auf Amelies persönlicher Berufswunschliste ganz weit oben noch vor Lehrerin und Schauspielerin … 

In der Psychotherapie, zu der auch eine wöchentliche Familiengesprächsrunde gehört, lernt Amelie erstmals über einen ganz besonderen Schmerz zu sprechen, den sie ganz tief in sich verborgen hatte: die Angst, ihre Mama zu verlieren. Seit Jahren lastet die schwere Erkrankung der Mutter auf der vierköpfigen Familie, die wegen spezieller Behandlungsmöglichkeiten sogar von Norddeutschland nach Augsburg gezogen war. »Natürlich haben wir vor den Kindern die Krankheit nicht verbergen können,« sagt der Vater nachdenklich, »aber wir wollten ihnen doch das Leben nicht so schwermachen.« 

Auch Amelie hatte Scheu, ihre Mutter mit ihren eigenen Ängsten und Fragen zusätzlich zu belasten. Die Psychologin gibt ihr Tipps, wie sie Unangenehmes und Konflikte ansprechen und lösen könnte. Schließlich sprechen Mutter und Tochter erstmals ausführlich über Tod und Sterben, eine Last fällt von Amelie ab. Auch die intensiven physio- und ergotherapeutischen Maßnahmen fruchten, der kranke Fuß erholt sich zusehends: Gipfelstürmerin Amelie kann die Station schmerzfrei und selbständig gehend verlassen. 

»Wir haben alle dazugelernt,« berichtet der Vater. »Wir trauen uns jetzt zu, auch Unangenehmes oder Trauriges zu besprechen.« Niemand in der Familie soll mehr seinen Kummer mit sich allein herumtragen müssen. Vor der Entlassung hat Amelie mit der Psychologin einen »Koffer gepackt«. Da kam »Selbstvertrauen, über Sorgen sprechen, ohne Walker laufen und wieder alles machen können hinein«, zählt Amelie auf. Die Sachen hat sie behalten. Neulich ist wieder mal was passiert: Leichtathletin Amelie hat sich das Knie verdreht. Während bei der Mutter sofort »alle Alarmglocken läuteten«, blieb die Tochter ganz cool. Mit Erfolg – nach ein paar Tagen war der Schmerz vorbei. 

CRPS: Wenn der Schmerz aus den Fugen gerät

Amelies Leiden, das Komplexe regionale Schmerzsyndrom CRPS (Complex Regional Pain Syndrom), auch Reflexdystrophie genannt, äußert sich durch massive und langanhaltende Schmerzen ohne erkennbare organische Ursache oder nach einem bereits abgeschlossenen Heilungsprozess an Händen oder Füßen. Sie gehen meist mit einer starken Bewegungs- und Funktionseinschränkung einher. Auslöser der bei Kindern selten anzutreffenden chronischen Erkrankung – Mädchen zwischen elf und 13 Jahren sind am häufigsten betroffen – sind zunächst harmlosere Verletzungen wie eine Zerrung oder Verstauchung. Mit der Zeit treten dann Beschwerden in dem betroffenen Körperteil auf, die so heftig sein können, dass bereits ein Pusten auf die Stelle als unerträglich empfunden wird. Gleichzeitig ist sie deutlich geschwollen und die Haut wird rot, extrem kalt oder heiß. Die tatsächliche Ursache dafür, warum der Schmerz aus den Fugen gerät, ist nicht immer zu klären. Als große psychische Risikofaktoren bei Kindern gelten jedoch kritische Lebensereignisse wie Tod, Trennung oder Mobbing. Auch Erwachsene können von CRPS betroffen sein, die Behandlung unterscheidet sich jedoch stark von der Therapie für Kinder.