Personalisierte Krebstherapie: Neue Behandlungskonzepte für Krebspatienten

Auch wenn zwei Patienten die gleiche Krebserkrankung haben, unterscheiden sich ihre Tumore wesentlich – wenn man die Erbsubstanz (DNA) und andere molekulare Merkmale in den Tumorzellen untersucht. Genau dies tun die Ärzte aus allen Kliniken, Instituten und Zentren des Universitätsklinikums, die am Comprehensive Cancer Center Augsburg (CCCA) eng zusammenarbeiten. In einem aufwendigen Verfahren, das sich Sequenzierung nennt, untersuchen sie die DNA mit modernen Analysegeräten. Das ist prinzipiell mit Ermittlungsmethoden bei der Polizei vergleichbar, wenn zur Identifizierung ein »genetischer Fingerabdruck« erstellt wird. Einen solchen »genetischen Fingerabdruck« der Tumorerkrankung erstellen die Ärzte, um die Mechanismen und Angriffspunkte des Tumors genauer zu verstehen. Ziel ist es, jeden Patienten individuell mit höchster Präzision zu behandeln – auch Präzisionsonkologie genannt.

Ein Interview mit Prof. Dr. Rainer Claus vom CCCA.

Was ist personalisierte Krebstherapie?

Dank entscheidender Fortschritte in der Forschung in den letzten Jahren und neuer Methoden zur Molekularen Diagnose verstehen wir viele Krebskrankheiten heute besser als früher. Wir können molekulare Veränderungen wie z. B. Veränderungen der Erbinformationen (DNA) im Tumor nachweisen, die zu fehlerhaften Funktionen in der Tumorzelle führen und damit für die Entstehung bestimmter Tumoren verantwortlich sind. Diese Veränderungen können sich teilweise erheblich zwischen einzelnen Patienten und Tumortypen unterscheiden. Mit den molekularen Informationen ist es dann möglich, jede Tumorerkrankung individuell zu charakterisieren und mögliche Angriffspunkte für neue Medikamente zu finden.

Welche Erkenntnisse kann man mit Hilfe der Molekularen Diagnostik gewinnen?

Auf Basis der molekularen Untersuchungen und der individuellen Charakterisierung des Tumors können wir individuelle Behandlungswege zur Abtötung der Tumorzellen entwickeln. Dazu gehört ein sehr gezielter Einsatz von Medikamenten, teilweise in Kombination mit anderen Methoden wie z. B. Bestrahlung. Immer häufiger kommen Medikamente zum Einsatz, die ursprünglich für andere Tumorerkrankungen entwickelt und zugelassen wurden, die aber aufgrund ihrer Wirkweise und aufgrund der spezifischen molekularen Merkmale des individuellen Tumors ein Ansprechen zeigen. Die molekularen Eigenschaften des Tumors kann man dabei wie eine Art Visitenkarte (»Biomarker«) ansehen, anhand derer wir versuchen, die Wirksamkeit verschiedener zielgerichteter Medikamente vorherzusagen.

So sind für die Behandlung bestimmter Lungentumore derzeit beispielsweise eine Vielzahl neuer Medikamente zugelassen. Nicht jedes wirkt bei jedem Tumor. Anhand der molekularen Struktur des Tumors (z. B. der spezifischen Veränderungen der DNA) können die Medikamente – von denen es heute eine Vielzahl bereits in Tablettenform gibt – ganz gezielt eingesetzt werden. Um es bildlich zu sagen: »Wir passen die Therapie wie einen maßgeschneiderten Anzug dem Patienten an«.

Was bringt das für die Patienten?

Wir setzen die individuelle molekulare Charakterisierung von Tumoren bereits in der Standardbehandlung einzelner Tumorerkrankung (z. B. bei Lungentumoren, Hautkrebs usw.) ein. Ein wesentlicher Schwerpunkt der Aufdeckung individueller molekularer Tumormerkmale und der personalisierten Therapie liegt aber vor allem bei Patienten, bei denen die etablierten Therapieansätze nicht mehr wirken oder fehlgeschlagen sind. Für diese Patienten versuchen wir, anhand der molekularen Tumorprofile individuelle, neuartige Behandlungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Dabei haben wir übrigens gelernt, dass sich die genetischen Veränderungen (Mutationen) mancher sehr unterschiedlichen Krebsarten sehr ähnlich sind, während in ein und derselben Tumorart teilweise sehr unterschiedliche Mutationsprofile vorliegen können. Das bedeutet, dass wir bei solchen Patienten eine Tumorerkrankung auch mit Medikamenten behandeln können, die eigentlich nur für die Therapie anderer Krebsarten zugelassen sind. Ein weiteres wichtiges Ziel ist auch, anhand der molekularen Profile die Wirksamkeit bestmöglich vorhersagen zu können und somit möglicherweise unwirksame Behandlungen zu vermeiden. Damit können wir dann natürlich auch unnötige Nebenwirkungen und mögliche Unverträglichkeiten von Medikamenten verringern.

Die beschriebenen molekularen Methoden lassen sich zudem einsetzen, um das erneute Auftreten von Tumorerkrankungen frühzeitig zu erkennen, in einigen Fällen deutlich frühzeitiger als das mit bildgebenden Verfahren (Röntgen, CT, Ultraschall usw.) und den klassischen Tumormarkern möglich ist. So ist es beispielsweise möglich, durch molekulare Untersuchungen im Blut von Tumorpatienten (Flüssigbiopsie, »Liquid Biopsy«) ein erneutes Auftreten von Darmkrebs bis zu sechs Monate früher zu erkennen, als es durch CT-Untersuchungen erkennbar würde.

Gibt es besondere Schwierigkeiten?

Ein grundlegendes Problem ist, dass viele Krebsarten ihr molekulares Profil (mit den spezifischen genetischen Mutationen) insbesondere unter Therapie immer wieder verändern. Wir nennen dies klonale Evolution. Um die maßgeschneiderte personalisierte Therapie weiter optimal zu gestalten und an die neue Situation anzupassen, müssen wir dementsprechend unter Umständen die beschriebenen molekularen Analysen im Verlauf der Erkrankung auch mehrfach wiederholen. Hierfür müssen wiederholt Gewebeproben (Biopsien) gewonnen werden. In den letzten 2 – 3 Jahren hat sich gezeigt, dass die Flüssigbiopsie, also die molekulare Tumorcharakterisierung durch Analysen im Blut, in einigen Situationen bereits die Biopsien des Tumors ersetzen kann. In diesem Bereich findet aktuell intensive Forschungsarbeit u. a. auch am Universitätsklinikum Augsburg statt. Ob die Flüssigbiopsie die Gewebebiopsie jedoch vollständig ablösen kann, ist bisher nicht klar. Eine weitere Schwierigkeit in der molekularen Charakterisierung des Tumors ist die Interpretation der molekularen Veränderungen. Während eine zunehmende Anzahl an Genmutationen und ihre funktionelle Konsequenz mittlerweile bekannt ist, tauchen in den molekularen Untersuchungen immer wieder genetische Veränderungen auf, deren Bedeutung bisher nicht eindeutig geklärt ist.

Wie läuft die Diagnose ab?

Wir gewinnen durch die Biopsie Zellen aus dem Tumor und isolieren aus ihnen die DNA. Wie beschrieben, ist dies in einigen Fällen mittlerweile bereits aus dem Blutplasma möglich. Die DNA besteht aus mehr als 3 Milliarden Bausteinen und enthält etwa 23 000 einzelne Gene. Entweder alle Gene oder eine Auswahl von Genen werden dann von speziellen Geräten »gelesen«, um die Mutationen herauszufinden. Diesen Vorgang nennt man Sequenzierung. Um hohe Sicherheit zu gewinnen, dass die Mutationen richtig erkannt wurden und um festzustellen, wie häufig sie vorliegen, wird dieses »Lesen« etwa 1 000 bis 5 000 mal wiederholt. Diese Diagnostik dauert heute dank modernster Analysemethoden nur etwa 1 – 2 Tage. Im Anschluss werden die Mutationen dann detailliert beschrieben und mit Experten aus verschiedenen Fachrichtungen interpretiert, um maßgeschneiderte Therapieempfehlungen daraus abzuleiten. Um dieses Vorgehen fest in den klinischen Alltag zu integrieren, erfolgt die Interpretation und Besprechung der Befunde sowie die Therapieempfehlung in einer wöchentlich stattfindenden Expertenkonferenz, dem molekularen Tumorboard (MTB).

Was geschiet mit dieser enormen Datenmenge?

Um die Datenmenge sinnvoll zu analysieren und im Anschluss auch interpretieren zu können, sind medizin- und bioinformatische Methoden notwendig. Die aus der Analyse des Tumors gewonnenen Daten werden mit mathematischen Verfahren analysiert und zusammen mit Molekularpathologen und Informatikern für uns Ärzte so aufbereitet, dass wir eine verlässliche Grundlage für die Befundinterpretation bekommen. Aus diesen Daten und allen weiteren vorliegenden Befunden und Ergebnissen entwickeln wir dann eine auf jeden Patienten individuell zugeschnittene Behandlungsstrategie.

Werden die Kosten für indivduelle Therapien von den Krankenkassen übernommen?

Die Krankenkassen übernehmen prinzipiell Kosten für Therapien, die für eine bestimmte Tumorerkrankung in einer bestimmten Situation zugelassen sind. Da bei der personalisierten Tumortherapie durch die molekulare Diagnostik häufig Therapiemöglichkeiten aufgezeigt werden, die keine entsprechende Zulassung besitzen, besteht grundsätzlich erst einmal keine Verpflichtung der Krankenkasse, die entstehenden Kosten zu übernehmen. Häufig geht es dabei um sehr teure Medikamente mit Monatstherapiekosten von mehreren Tausend Euro, für die noch keine großen wissenschaftlichen Studien für die spezifische Tumorerkrankung vorliegen. In solchen Fällen müssen wir mit den Krankenkassen verhandeln und die Kostenübernahme individuell beantragen (z. B. wenn wir ein Medikament, das beispielsweise für die Behandlung von Lungenkrebs zugelassen ist, bei einem Patient mit Darmtumoren einsetzen wollen). Durch einen methodisch einwandfreien Nachweis der molekularen Veränderungen, durch detaillierte Beschreibung und Interpretation sowie die Auflistung möglicher klinischer Hinweise auf Wirksamkeit erhalten wir in einer Vielzahl von Fällen einen positiven Bescheid für die Kostenübernahme durch die Krankenkasse.